Von: bfbauad@bluewin.ch
Gesendet: Mittwoch, 24. Oktober 2018 15:28
Betreff: WG: ... Junge willkommen? Information oder Anarchie? Abschied von der politischen Philosophie

 

Ob Junge willkommen sind, wird zuerst durch Facebook & Co. beantwortet. Dort sind sie es, und wie man weiss, fühlen sie sich dort auch wohl. Aber in diesen exklusiven Netzwerken geht es nicht um gesellschaftlich oder demokratiepolitisch relevante Information; und wenn es gut geht, hören sie von einem Älteren, sie seien in der Anarchie. Sie sind es aber nicht. Sie sind nur wild. In die Hände der zerbrechenden traditionellen Strukturen fallen sie erst, wenn es ihnen nicht mehr so gut geht und wenn sie arbeiten, Einkommen erzielen müssen. In diesen Welten spielt solche Information eine Rolle. Wenn es ums Geld geht, werden auch die Jungen recherchieren. Und worauf treffen sie dann in dieser Welt der Älteren? Treffen Sie dort auf Anarchie?

 

Sie treffen auf

 

1)      Wikipedia, mit einem erwartungsgemäss nicht ganz kurzen, aber in der Regel gut strukturierten Artikel, beginnend mit einer Kurzzusammenfassung der heutigen Bedeutung, dann das Verzeichnis

1   Übersicht

2   Begriffsgeschichte

3   Gesellschaftsordnungen indigener Kulturen

Hier der Hinweis, dass die Gesellschaftsordnung ursprünglicher indigener Kulturen bisweilen als „regulierte Anarchie“ bezeichnet würden. Korrekter sei jedoch der Bezug auf die Akephalie und die damit verbundene Segmentäre Gesellschaft.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Mit Anarchie haben die indigenen Kulturen, verstanden als Naturvölker, überhaupt nichts zu tun. Das müsste Wikipedia klar mitteilen. Aus der Zeit vor der Zivilisation gibt es keine Legitimation, um sich Aufgaben oder die gemeinsamen Regeln vom Leib zu halten. Die Realität ohne Gesetz ist Befriedungsstreben und Faustrecht. Als bedauerliches Beispiel habe ich einen Polit-Star dokumentiert, der sich sogar in seiner angesehenen Position über das Gesetz erhebt. („Wenn ich nicht stemple, bin ich friedlich“, ISBN 978-3-033-05528-5, Faltflyer A4). Die Länder tun gut daran, die Wehrlosen durch eine geeignete Amtsmissbrauchs-Gesetzgebung, die dann tatsächlich auch angewendet wird, zu schützen. Das Dienen ist leider nicht allen gegeben. Sie leben sich hemmungslos aus und verursachen immense menschliche und finanzielle Schäden in der Bevölkerung („Gewölk statt Untersuch – Jetzt muss man sie aber packen!“, ISBN 978-3-033-05527-8, 168 Seiten Originaldokumente einer immer existenzielleren Auseinandersetzung; Zeugnis auch von Notstand, Notwehr als Publikation, Hilferuf in die Öffentlichkeit).

4   Gesellschaftsmodell im Anarchismus

5   20. Jahrhundert

 

2)      Von Google ausgelesene Wörterbuch-Definition, lautend

 

1.  Zustand der Gesetzlosigkeit, politische Wirren ("einen Staat, die Wirtschaft an den Rand der Anarchie bringen")

2.  Philosophie:  gesellschaftlicher Zustand, in dem eine minimale Gewaltausübung durch Institutionen und maximale Selbstverantwortung des Einzelnen vorherrscht

 

Anarchie im Verständnis der politischen Philosophie ist also was die Liberalen, die Freiheitlichen wollen. Nicht mehr Staat als nötig, dafür so viel Selbstverantwortung wie möglich.

 

Aber dann merkt man, dass das nicht sein kann. Die Sache fällt auseinander in eine Seite, welche in erster Priorität zum Staat steht, den Freiheitlichen, und der andern, den Anarchos, den Gesetzlosen. Und die Frage schliesst sich an, ob Anarchisten, heutzutage wo wir in Staaten leben, die Kriminellen sind, als was sich die Anarchos unmöglich sehen. – Es besteht offensichtlich Nachbesserungsbedarf bei der Definition.

 

Oder will sich die Philosophie bei den Nichtsnutzern beliebt machen, oder, selber klein, einem Nutzen fern, den Umstürzlern, um des Umstürzens Willen? weil sie ihrer gesellschaftlicher Bedeutung in der Aufklärung mit ihren Umstürzen nachtrauert? Tja, als die Philosophie noch eine Bedeutung hatte! Bringt sie heute überhaupt noch eine vernünftige Definition zustande? Könnte es eine Aufgabe der Philosophie sein, mit wenigstens schon mal vernünftigen Definitionen für einen vernünftigen Beitrag in der Öffentlichkeit zu sorgen? Oder ist das die neue Art der Philosophie, wenn sie schon nichts mehr zu sagen hat, mit solchen „Beiträgen“ wenigstens gleich auch was noch funktioniert mit sich hinunter zu reissen?

 

Wann kommt watson?

3)      Wikipedia, aber nicht etwa mit Anarchie. Anarchismus. Ich hätte aber eben gerne Anarchie.

4)      Boarische Wikipedia

Wird man als Nichtboarin und Nichtboaren auslassen.

5)      Anarchismus.de

„Das Wort Anarchie leitet sich vom griechischen "an - archia" ab und meint Herrschaftslosigkeit. Dementsprechend liegt allen Strömungen des Anarchismus, so unterschiedlich diese zum Teil auch sein mögen, die Utopie einer Gesellschaft ohne Herrschaft zu Grunde.“

 

Ah, endlich. Utopie.

 

Duden: Utopie: undurchführbar erscheinender Plan; Idee ohne reale Grundlage

 

6)      Helles Köpfchen - für Kinder erklärt

Gar nicht so schlecht erklärt. Kind müsste man sein J. Aber eben: Anarchismus ist ein nicht erfüllbarer Wunschtraum. Die Wirklichkeit von Anarchismus ist Faustrecht.

7)      Duden

Entspricht weitestgehend der Wörterbuch-Definition von Google; bei uns hier Pos. 2

8)      Bundeszentrale für politische Bildung (bpb.de) – das junge Polit-Lexikon

Erstaunlich, wie die Bundeszentrale die Bewertung der Gesetzlosigkeit jeder resp. jedem Einzelnen überlässt.

9)      watson

„Eine kleine Geschichte der Anarchie in der Schweiz“

 

„Der Bundesrat, der Chef deines Chefs, dein Chef und dann du. Diese Ordnung wollen Anarchisten abschaffen.“ schreibt watson zum 1. Mai 2018.

 

Klar, der Mensch wollte immer schon an den Kuchen, und manche leider auch ohne Entsprechendes beizutragen. Auch die Ruhe der von der Arbeit Erschöpften hätte nie eine Chance gegen die frisierten Schrottwagen, die gerne möglichst röhrend allen vorbei zum hintersten Haus rasen. Wir brauchen sinnvolle Vorschriften. Aber am Gesetzesschaffen sollen alle zu gleichen Teilen beteiligt werden. Sodann hat man sich zu unterordnen, sonst riskiert man Einzelhaft. Wer hat die die Bezeichnung „egalitäre Konsensdemokratie“ bei den Naturvölkern vorgeschlagen? Es würde uns nicht mehr geben! Man war ganz darauf angewiesen, dass jeder und jede einbringt, was möglich ist, und da sind die Menschen recht verschieden. Man folgte dem erfahrensten Anführer. Für basisdemokratische Gruppenexperimente war da in dem sehr engen materiellen Korsett null Raum. Generell – oder egalitär, wenn Sie mögen – einzubringen war die von den Christen mit der Hölle bestrafte Sexualität, da sie zusammenhält, gar Streit schlichtet, gesund hält, gar heilt, stark macht und zu körperlicher und geistiger Höchstleistung führt. Die heute weitgehend ausbleibende Sexualität ist massgebend für Konsum- und Esssucht, die fehlende Fitness, die Misere zwischen den Geschlechtern, Vereinzelung und Vereinsamung und die entsprechenden Umweltschäden, Gesundheits- und Sozialkosten.

 

Der Beitrag von watson erscheint bei mir, nach etwa einem Dutzend Besuchen ihres Sektenblogs, nun bereits an dieser Stelle. Ich habe Glück. Ohne das wäre es Platz 43 gewesen, und ihr schöner Beitrag wäre ziemlich sicher unentdeckt geblieben.

 

Eine weitere Definition, oder eine Übersicht über den Begriff gestattende Darstellung, lässt sich vielleicht gar nicht, sicher jedoch nicht ohne erheblichen Aufwand finden.

 

Bei „Spiegel Anarchie“ gelange ich zuoberst auf eine bemerkenswerte Kolumne zum gewalttätigen G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Unter dem Titel „Begriffschaos: Nicht alles, was brennt, ist Anarchie“ listet sie Medien auf, die sich von der Philosophie verabschiedet haben. Sie stiess auf "Die Nacht, in der im Schanzenviertel die Anarchie ausbrach" bei Welt Online, "Das süsse Gift der Anarchie" bei der NZZ, "Der Abend der Anarchie" bei der taz, "Die Schanze brennt! Aufnahmen zeigen Anarchie, Gewalt und Plündereien in Hamburg" von Focus Online. Der Spiegel selber pudert dann noch etwas Kosmetik über die Realität. Anarchismus sei Gewaltfreiheit, basiere auf Gleichberechtigung, Vereinbarungen, Hilfe und Solidarität. Wenn man doch sieht, wie sich die Leute an ihre Machtpositionen klammern, zur Einhaltung von Vereinbarungen Gerichte benötigen. Hilfe und Solidarität reichen nicht sehr weit.

 

Ganz so einfach macht es uns die Geschichte nun aber doch wieder nicht. Da ist auf Wikipedia im Kapitel 5, 20. Jahrhundert zu lesen, dass in Nordspanien zur Zeit des Kampfes gegen den Faschismus 1936-1939 die Idee der freien Liebe populär wurde. Die existenzielle Gefährdung hat unser ursprüngliches schamanisches Wesen wieder etwas zum Vorschein gebracht. Aber mit Anarchie hat das nichts zu tun. Da war keine Anarchie in diesen angeblich anarchistisch verwalteten Gebieten. Die Herrschaft übte einfach nicht ein eigenes Establishment aus. Vereint in der Not tat jeder und jede, das Möglichste, das Naheliegendste, das Vernünftige. Schamanismus, hier als die Tieferen vor einer Diktatur.

 

Nehmen Sie das Heft in die Hand, Katja Gentinetta.

 

Urs Rüesch

Consulting & Trainers

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